Mediation und Governance als Kunst der Resonanz
Tiefengeschichten hören
Wenn Menschen einander zuhören, scheint es auf den ersten Blick einfach:
Da ist jemand, der spricht, und da ist jemand, der hört.
Doch schon nach wenigen Sätzen zeigt sich: Wir hören nie nur die Worte.
Wir hören durch unsere eigenen Filter, wir hören mit den Stimmen unserer Vergangenheit, wir hören mit einer Geschichte, die mitschwingt, ob wir wollen oder nicht.
Der Kommunikationswissenschaftler Bernhard Pörksen beschreibt in seinem Buch Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen (Hanser Verlag 2025) dieses Phänomen mit einem prägnanten Ausdruck: Tiefengeschichte.
Er versteht darunter eine emotional eingefärbte Matrix aus Erfahrung und Erkenntnis, ein subjektives Prisma aus Hoffnung und Sehnsucht, Verbitterung und Scham.
Diese Tiefengeschichte entscheidet darüber, was wir für real und möglich halten – und was nicht.
Tiefengeschichte als Resonanzboden
Man könnte sagen: Unsere Tiefengeschichte ist ein innerer Resonanzboden.
Sie bestimmt, welche Worte bei uns andocken, welche uns kaltlassen und welche uns verletzen.
Zwei Menschen hören denselben Satz – und reagieren völlig verschieden.
Nicht, weil die Worte anders wären, sondern weil ihre Tiefengeschichten verschieden sind.
Im Alltag von Unternehmerfamilien, Familien-Privatstiftungen oder Führungsgremien wird das unmittelbar spürbar:
- Ein Vorschlag zur Nachfolge klingt für den einen wie eine verheißungsvolle Chance – und für den anderen wie die Wiederholung einer alten Kränkung.
- Ein nüchterner Finanzbericht wird gehört als Beleg verantwortungsvoller Vorsicht – oder als Signal, dass menschliche Dimensionen verdrängt werden.
- Eine Einladung zum Gespräch wird als Zeichen von Respekt erlebt – oder als Versuch, Kontrolle zu übernehmen.
In Wahrheit hören wir also immer doppelbödig: den Inhalt – und das Echo der Tiefengeschichte.
Governance im Licht der Tiefengeschichte
Governance-Prozesse, die nur auf Strukturen, Regeln und Protokolle achten, riskieren, an dieser zweiten Ebene vorbeizugehen.
Man kann Beschlüsse fassen, Gremien ordnen, Zuständigkeiten klären – und doch erleben, dass Konflikte in Familienstiftungen oder Unternehmerfamilien weiter schwelen.
Der Grund: Die Tiefengeschichten der Beteiligten bleiben unberücksichtigt.
Gute Governance braucht deshalb zweierlei:
- Strukturelle Klarheit – Rollen, Zuständigkeiten, Verfahren.
- Resonanzräume für Tiefengeschichten – Orte, an denen ausgesprochen werden darf, was bisher unausgesprochen blieb.
Erst wenn beides zusammenkommt, entsteht eine tragfähige Ordnung:
Strukturen, die halten – und Beziehungen, die tragen.
Tiefengeschichte im Ad_Monter Meta Modell
Das Ad_Monter Meta Modell (A_MMM) unterscheidet verschiedene Felder, in denen Verständigung geschieht. Besonders zwei davon sind für Tiefengeschichten entscheidend:
c-me (Selbstklärung)
Hier wird hörbar, wie die eigene Tiefengeschichte das Wahrnehmen färbt.
Welche Stimmen trage ich in mir?
Woher kommen meine Hoffnungen, meine Kränkungen, meine Bilder von Zukunft?
Selbstklärung bedeutet nicht, die Tiefengeschichte aufzulösen –
sondern sie zu erkennen, damit sie nicht unbemerkt das Gespräch steuert.
c-us (Dialog)
Hier begegnen unterschiedliche Tiefengeschichten einander.
Gespräche in Unternehmerfamilien sind deshalb oft nicht bloß der Austausch über Zahlen und Fakten, sondern Begegnungen von Vergangenheiten.
Dialogische Haltung heißt dann:
den anderen nicht nur als Sprecher von Argumenten zu sehen,
sondern als Träger einer Tiefengeschichte, die es zu würdigen gilt.
Rollen im Umgang mit Tiefengeschichte
Die/der Selbstklärende
Wer sich auf Selbstklärung einlässt, begegnet der eigenen Tiefengeschichte als innerem Speicherraum.
Aufgabe ist nicht, sie öffentlich auszubreiten, sondern sie als Resonanzraum des Eigenen wahrzunehmen:
- Welche Erinnerungen färben mein Hören?
- Welche Hoffnungen und Kränkungen bestimmen meine Vorstellungen vom Möglichen?
Selbstklärung heißt:
die Tiefengeschichte kennen, damit sie nicht unbewusst das Gespräch steuert.
Die zuhörenden Parteien
In jeder Gesprächssituation hören die Beteiligten nicht nur aufeinander, sondern durch ihre eigenen Tiefengeschichten hindurch.
Wer sich dessen bewusst wird, kann differenzierter reagieren:
- statt den anderen vorschnell als „irrational“ abzutun,
kann anerkannt werden, dass eine andere Tiefengeschichte im Spiel ist.
Zuhören bedeutet dann:
die Geschichte hinter den Worten mitzudenken, ohne sie sofort erklären zu wollen.
Die Prozessbegleiter:innen / Mediator:innen
Ihre besondere Kunst liegt darin, Räume zu öffnen, in denen Mediand:innen ihre Tiefengeschichte wahrnehmen können –
als Resonanz, nicht als Entblößung.
Hier berühren wir, mit Aleida Assmann (Der lange Schatten der Vergangenheit, 2006), das Verhältnis von:
- Funktionsgedächtnis – das, was wir im Moment brauchen (Zahlen, Argumente, Rollen)
- Speichergedächtnis – jener tiefere Schatz aus Erfahrungen, Mustern, Geschichten
Aufgabe der Mediator:innen ist nicht, das Speichergedächtnis durch bohrende Fragen offenzulegen.
Es gilt vielmehr, eine Atmosphäre zu schaffen, in der die/der Selbstklärende selbst Zugang findet – tastend, leise, im eigenen Tempo.
Die oberste Prämisse:
Bewusstwerdung evozieren, nicht Entblößung erzwingen.
Die Tiefengeschichte der Prozessbegleiter:innen
Auch Begleiter:innen treten nicht geschichtslos in den Raum.
Doch im Unterschied zu den Mediand:innen gehört die Kenntnis ihrer eigenen Tiefengeschichte nicht zum Verfahren selbst,
sondern zur professionellen Haltung.
Kernkompetenz in Mediation und Governance bedeutet deshalb:
- die eigene Tiefengeschichte so gut zu kennen, dass sie das freie Zuhören nicht überlagert
- sie in Intervision, Supervision und Selbsterfahrung zu reflektieren
- damit sie Resonanz ermöglicht, statt den Prozess zu stören
Die eigene Tiefengeschichte wird so nicht zum Störfaktor,
sondern zur Quelle von Empathie und Resonanzfähigkeit.
Einladung zur Verantwortung
Tiefengeschichte ist kein Defizit.
Sie ist eine Einladung, sich selbst und anderen tiefer zu begegnen.
Sie erinnert uns daran, dass wir nicht neutrale Beobachter:innen sind,
sondern Menschen mit Geschichte.
Verantwortung in Governance bedeutet deshalb auch:
die eigene Tiefengeschichte zu kennen – und sie nicht unbemerkt zur Regie über das Miteinander werden zu lassen.
So wird Governance nicht nur zum Management von Strukturen,
sondern zur Kunst der Beziehungsgestaltung.
Conclusio
Vielleicht liegt hier die eigentliche Aufgabe von Mediation und Governance:
nicht nur Worte zu ordnen,
sondern Resonanzräume zu schaffen.
Räume, in denen Tiefengeschichten mitschwingen dürfen –
als stille Kraft, die das Mögliche erweitert.
Tiefengeschichte ist das Echo unserer Vergangenheit –
und die Schwelle, an der Beziehung wirklich beginnt.
Weiterlesen
Bernhard Pörksen (2025): Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen. München: Carl Hanser Verlag.
Aleida Assmann (2006): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C.H. Beck.