Die offene Gesellschaft – und unsere Gesprächskultur

Die offene Gesellschaft – und unsere Gesprächskultur

Prolog – Gespräch als Resonanzraum

Wir leben in einer Zeit, in der Gespräche härter werden. Sätze sind zugespitzt, Positionen werden wie Schilde vor uns hergetragen. Der Rhythmus der sozialen Medien fördert Schnelligkeit und Zuspitzung, doch kaum Resonanz und Nachhall. Zuhören gilt fast schon als Schwäche, Innehalten als Zeitverlust.

Dabei entscheidet sich gerade im Gespräch, ob wir fähig bleiben, eine offene Gesellschaft zu leben – oder ob wir uns in kleine, abgeschlossene Lager zurückziehen.

Die Rede von der offenen Gesellschaft klingt groß, fast pathetisch. Doch im Kern ist sie etwas sehr Konkretes: die Fähigkeit, Unterschiede im Gespräch zu halten, ohne sie zu vernichten. Eine Gesellschaft wird nicht allein durch Gesetze und Institutionen offen, sondern durch ihre alltägliche Gesprächskultur.

Karl Popper hat 1945, im Schatten von Totalitarismus und Krieg, sein großes Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde veröffentlicht. Darin verteidigt er Freiheit, Kritik und Pluralität gegen jene Kräfte, die Gesellschaften schließen und erstarren lassen. Heute, fast achtzig Jahre später, lohnt es, diesen Titel neu zu lesen – als Einladung, die „offene Gesellschaft“ nicht nur als politisches Prinzip, sondern als Haltung im Gespräch zu begreifen.

Denn was für Demokratien gilt, gilt auch für Konflikte, Familien, Organisationen: Offene Systeme leben davon, dass Menschen sich in Sprache begegnen – ohne Dogma, ohne den Anspruch auf absolute Wahrheit, ohne Angst vor Irrtum.

Die offene Gesellschaft beginnt nicht im Parlament, sondern im Gespräch zwischen zwei Menschen, die bereit sind, einander auszuhalten.

Historischer Resonanzraum

Popper schrieb sein Werk im Exil, in Neuseeland. Die Welt lag in Trümmern. Totalitäre Systeme hatten gezeigt, wohin Dogmatismus und Geschichtsglauben führen: in Gewalt und Unterdrückung. Popper nannte diese Systeme die „Feinde der offenen Gesellschaft“: Sie beanspruchten, das Rad der Geschichte zu kennen, und wollten Menschen in den Lauf eines angeblich unvermeidlichen Schicksals zwingen.

Seine Kritik richtete sich nicht nur gegen Faschismus, sondern auch gegen den Historizismus, wie er ihn bei Plato, Hegel oder Marx sah: den Glauben, dass Geschichte nach zwingenden Gesetzen verlaufe. Für Popper war dieser Glaube selbst schon eine Form der Geschlossenheit, weil er Freiheit und Offenheit der Zukunft negiert.

Warum ist das für uns heute relevant?

Weil auch wir in Gefahr stehen, unsere Gesprächskultur zu schließen –
nicht durch Diktaturen, sondern durch:

  • digitale Echokammern,
  • den Zwang zur schnellen Positionierung,
  • die Abwertung anderer Sichtweisen.

So entstehen kleine „geschlossene Gesellschaften“, in denen nur die eigene Wahrheit gilt.

Die offene Gesellschaft im popperschen Sinn ist also nicht nur ein Staatsmodell. Sie ist ein Prinzip, das in jedem sozialen Raum gilt: in Familien, Unternehmen, Organisationen.

Die offene Gesellschaft lebt nicht von der Größe ihrer Institutionen, sondern von der Weite ihres Gesprächsraums.

Offene Gesellschaft = Offenes Gespräch

Poppers Grundprinzipien lassen sich direkt auf Gespräche übertragen:

1. Fehlbarkeit anerkennen

„Wir alle können irren.“
Eine befreiende Haltung, die Druck nimmt und Dialog ermöglicht.

2. Kritikfähigkeit

Aussagen sind Angebote, keine Dogmen.
Wer Kritik zulässt, hält den Dialog offen.

3. Stückwerk-Technologie

Keine großen Heilspläne, sondern kleine Schritte.
Auch Gespräche verändern sich in Etappen, nicht in Revolutionen.

Ein Beispiel aus der Mediation:

  • „So war es immer und so wird es bleiben.“ → Geschlossenheit
  • „Du bist schuld.“ → Dogma

Erst eine tastende Frage öffnet wieder Raum:

„Was würde sich verändern, wenn wir diesen Punkt heute für einen Moment anders betrachten?“

Ein Gespräch bleibt offen, wenn es nicht von Wahrheiten lebt, sondern von tastenden Fragen.

Die Feinde der Offenheit im Gespräch

Popper sprach von den „Feinden“ der offenen Gesellschaft. Diese Feinde finden wir auch in alltäglichen Gesprächen:

Dogmatismus

„So ist es – Punkt.“

Historizismus

„Es war immer so – daher bleibt es so.“

Autoritarismus

Der Wunsch, Verantwortung abzugeben:
„Sag du uns, wer recht hat.“

In der Mediation bedeutet das konkret:
Mediator:innen sind Hüter:innen der Offenheit – sie schützen den Raum vor Zuschreibungen und Wahrheitsansprüchen, ohne selbst Wahrheiten zu verkünden.

Die Feinde der Offenheit sind weniger Systeme als Haltungen.

Poppers Methode als Gesprächsressource – und die Kunst des Tastens

Der kritische Rationalismus ist im Kern eine Gesprächsmethode:
Hypothesen bilden → prüfen → verwerfen → neu denken.

In der Wissenschaft explizit.
In der Mediation implizit.

Erfahrene Mediator:innen formulieren Hypothesen als tastende Fragen:

  • „Wenn ich Ihnen zuhöre, klingt es, als gäbe es … – wie erleben Sie das?“
  • „Was würde geschehen, wenn wir das anders denken?“
  • „Welche Bedeutung hat dieser Punkt für Sie?“

Hypothesen sind hier Fühler ins Offene, nie Urteile.

Fehlbarkeit wird nicht nur anerkannt, sondern praktiziert.

Aktualisierung im Heute

Welche Feinde bedrohen die offene Gesellschaft heute?

  • algorithmische Echokammern,
  • absolute Meinungen,
  • Gesprächsflucht und Cancel Culture.

Die offene Gesellschaft ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine fragile Praxis.

Sie stirbt nicht am Lärm – sondern an Gesprächsflucht.

Conclusio

Karl Popper verteidigte die Freiheit gegen ihre Feinde.
Seine Botschaft wirkt heute weiter – als Orientierung für unsere Gesprächskultur.

Eine offene Gesellschaft entsteht dort,
wo Menschen einander aushalten, Fehler zugestehen, Kritik zulassen und Zukunft wagen.

Vielleicht ist das die Aufgabe unserer Zeit:
den Resonanzraum des Gesprächs zu hüten – damit viele Stimmen keine geschlossene Front, sondern eine offene Gesellschaft bilden.

Eine offene Gesellschaft lebt nicht von Einheit, sondern von der Fähigkeit, tastend im Gespräch offen zu bleiben.