Die Geste und das Dritte in der Mediation
Ein essayistischer Beitrag aus der Reihe „Mediation & Wandel“ – über Präsenz, Verletzlichkeit und die Kunst, das Unsichere auszuhalten.
Marina Abramović als Resonanzfigur der Beziehung. (gesehen in der Albertina modern, Wien)
Prolog – Die Bilder atmen
Eine Frau in Schwarz sitzt, steht, schreit, verstummt. Ein Paar, Rücken an Rücken, verbunden durch ein geflochtenes Band aus Haar. Ein Tor aus leuchtendem Stein, das in den Raum hinein zu atmen scheint. Ein Gesicht, das in einem weißen Kreuz aufleuchtet – Schmerz, Erschöpfung, Auflösung, Frieden.
Diese Ausstellung in der Albertina modern zeigt nicht einfach Werke, sie zeigt Zustände. Zwischen den Wänden hängt nicht Materie, sondern Bewegung – die Bewegung von Zeit, Körper, Beziehung. Jede Arbeit von Marina Abramović ist ein Experiment über das Menschsein: Wie viel Gegenwart hält ein Körper aus? Wie viel Schweigen erträgt eine Beziehung?
In der Mediation begegnen wir denselben Fragen. Auch hier geschieht das Wesentliche oft zwischen den Worten – in einer Handbewegung, einem Atem, in der Art, wie jemand schaut oder wegsieht. Die Geste ist das leibliche Echo einer inneren Geschichte. Sie zeigt, was Mediand:innen meist nicht bewusst wahrnehmen, aber in sich spüren – jene leisen Bewegungen aus Unsicherheit, Sehnsucht, Angst und dem Bedürfnis, gehalten zu sein.
Abramović’ Arbeiten öffnen ein Feld, in dem solche unbewussten Träger sichtbar werden. Ihre Kunst ist kein Abbild, sondern ein Verfahren – eine soziale Choreografie, die Resonanz provoziert. So berührt ihre Kunst jene Bewegung, die auch das Ad_Monter Meta Modell (A_MMM) beschreibt – vom Verstehen über das Begegnen bis hin zum Gestalten.
c-it¹ – Der Gegenstand: Die Geste als Schwelle
Wie in Rhythm 0 (1974) beginnt alles mit einer Setzung, die zugleich Preisgabe ist: „Ich bin das Objekt.“ Die Künstlerin steht still, vor ihr ein Tisch mit 72 Gegenständen – von der Feder bis zur Pistole. Sie übergibt sich dem Publikum. Was folgt, ist kein Rollenspiel, sondern eine Enthüllung sozialer Energie: Die Zurückhaltung bricht, Gewalt tritt hervor.
Im mediationsförmigen Raum wiederholt sich dieses Muster subtiler: Auch dort wird zu Beginn ein Rahmen gesetzt – ein Tisch, eine Struktur, eine Einladung. Erst wenn dieser Raum ernst genommen wird, zeigt sich, was wirklich wirkt. Der Konfliktgegenstand ist kein Sachverhalt, sondern ein Schwellenraum: eine Bühne, auf der Beziehung sichtbar wird.
Abramović’ körperliche Präsenz verweigert jede Erklärung. Sie zwingt zur Projektion – und damit zur Selbsterkenntnis. So wird aus der äußeren Handlung ein Spiegelprozess. Auch in der Mediation entscheidet der erste Moment der Stille. Noch spricht niemand, doch alles ist schon gesagt. Unsicherheit, Misstrauen, Sehnsucht – sie sind im Raum, körperlich spürbar.
Die Geste, die nicht erklärt wird, öffnet den Übergang: vom Objekt zum Subjekt, vom Vorwurf zum Hören. Sie ist die erste Form von Verantwortung.
c-me – Selbstklärung: Das Zittern der Erkenntnis
In Freeing the Voice (1975) schreit Abramović, bis ihre Stimme versagt. Der Moment des Verstummens ist Erkenntnis. Der Körper wird leer, die Energie transformiert sich. Dieses „flüssige Wissen“, wie sie es nennt, entsteht, wenn Erschöpfung zur Offenheit führt.
Auch in der Mediation beginnt Selbstklärung oft paradox: erst durch das Erschöpfen der Argumente, wenn Worte sich abnutzen und Stille bleibt. Das Zittern, das Unbehagen, die Tränen sind keine Störung, sondern die Sprache eines tieferen Wissens.
Abramović spricht von der Erfahrung, „den Punkt zu erreichen, an dem Körper und Geist sich trennen – und wieder verbinden“. Diese Trennung ist Resonanz. Auch Mediand:innen erleben sie, wenn sie erkennen, dass ihre Sicht nicht die ganze Wirklichkeit ist. Selbstklärung heißt, Verantwortung für die eigene Energie zu übernehmen – in der Atembewegung zwischen Frage und Antwort. In der Mediation zeigt sich dieser Moment, wenn Beteiligte den inneren Ton ihrer Sprache hören – nicht was sie sagen, sondern wie.
Zwischen c-me und c-us – Der Blick als Resonanzhandlung
2010, The Artist Is Present: Abramović sitzt tagelang still im Museum of Modern Art in New York. Besucher:innen dürfen ihr gegenübersitzen, schweigend, so lange sie wollen.
Auf den Fotos aus dieser Arbeit sieht man Hunderte Gesichter – erwartungsvoll, beschämt, ergriffen, überfordert. Manche lächeln, andere weinen. Abramović reagiert nicht – und doch verändert sich alles.
Dieser Blick ist kein Beobachten, sondern ein dialogisches Ereignis. Zwischen zwei Körpern spannt sich ein unsichtbarer Faden, der hält, ohne zu binden. Der Raum wird zum Resonanzfeld.
In der Mediation findet sich dieses Moment wieder, wenn sich Blicke halten. Kein Wort, keine Erklärung – nur Gegenwart. Vertrauen entsteht nicht im Argument, sondern im Blick, der nicht flieht. Abramović sagt: „Wenn du jemandem wirklich in die Augen schaust, kannst du nicht mehr lügen.“ Auch in der Mediation gilt: Wahrheit ist keine Aussage, sondern eine Form der Präsenz.
Marina Abramović, The Artist Is Present, 2010 – Installation in der Albertina modern, Wien (Foto: Gustav Wurm, 2025).
c-us – Beziehung: Das Dritte entsteht
Die endlosen Reihen der Gesichter – eingefroren, offen, tränenreich – bilden ein visuelles Archiv von Begegnungen. In jedem dieser Gesichter spiegelt sich ein anderes Selbst. So entsteht eine soziale Skulptur aus Augenblicken: das Dritte, das zwischen den Menschen zirkuliert und doch niemandem gehört.
In der Mediation ist dieses Dritte der Raum, in dem Systeme sich selbst sehen können. Beziehung wird nicht hergestellt, sondern erinnert – verschüttet unter Angst, Stolz, Verteidigung. Wenn Schweigen zur Sprache wird, kann Heilung beginnen.
Abramović und Ulay hielten in Rest Energy (1980) den Moment des Vertrauens fest: der gespannte Pfeil, der nur durch Gleichgewicht nicht zur Waffe wird. Beziehung als Aushalten. Das Dritte lebt vom Gleichgewicht der Kräfte – jener fragilen Zone, in der Systeme lernen, miteinander zu schwingen.
c-it² – Gestaltung: Energie und Wandlung
In den späten Arbeiten – Dragons, Transitory Objects, Energy from Nature – zieht sich Abramović vom eigenen Körper zurück. Steine, Kristalle, Tore aus Licht übernehmen die Resonanzfunktion. Kunst wird hier zu einem Erfahrungsraum, der Besucher:innen auffordert, selbst in Beziehung zu treten: „Diese Objekte sind erst vollständig, wenn jemand sie berührt.“
Damit verschiebt sich der Fokus von der Selbstdarstellung zur geteilten Gestaltung. Im mediationsförmigen Sinn: Lösungen entstehen nicht durch Argumente, sondern durch Energiearbeit – durch das Halten des Raums, bis sich eine neue Ordnung zeigt.
„Ich möchte immer zur Quelle gehen“, sagt Abramović. Gestaltung ist Rückbindung: Der Prozess kehrt zur Quelle des Lebendigen zurück – an jene Stelle, an der Bewusstsein und Beziehung eins werden.
Konklusion – Die Kunst des Zwischenraums
Abramović’ Werk lehrt, dass Begegnung nur gelingt, wo jemand bereit ist, still zu werden, um wirklich zu sehen. Sie verwandelt Schmerz in Achtsamkeit, Kontrolle in Vertrauen, Distanz in Resonanz.
Die Kunst wird so zur Schwester der Mediation: Beide schaffen Erfahrungsräume, in denen Menschen ihr Spiegelbild ertragen und verwandeln können. Im Ad_Monter Meta Modell erscheint dieser Raum als Resonanzzone – eine Balance zwischen Stabilität und Wandel. Beide beruhen auf der Fähigkeit, das Unsichere nicht zu bekämpfen, sondern auszuhalten.
Wo Abramović den Blick hält, hält die Mediator:in den Prozess. Wo sie im Schweigen bleibt, bleibt auch die Mediation wach. Wo sie den Übergang formt, formt sich Legitimität aus Beziehung.
In beidem liegt dieselbe Ethik: Verletzlichkeit als Kraft. Präsenz als Methode. Aufmerksamkeit als Form der Verantwortung.
Poetischer Kernsatz
Ein Blick, der nicht flieht, verwandelt Zeit in Beziehung –
und das Unsagbare in geteilte Gegenwart.
Fotos: © Gustav Wurm
Verwendete Werke: © Marina Abramović / VG Bild-Kunst, Bonn 2025
(im Rahmen der künstlerisch-reflexiven Auseinandersetzung über Beziehung, Präsenz und Resonanz in der Mediation)